Alm-Sucht

Alm-Sucht

Martina Fischer ist almsüchtig. Diese Form der Sucht kommt vereinzelt in südlichen, alpennahen Regionen Deutschlands vor. Die Behandlung ist im Grunde einfach, dauert aber ungefähr vier Monate – so lange wie ein Almsommer.

Viele Male schon ist die gelernte Krankenschwester Martina Fischer seit 2011 als Sennerin oder Almerin für einen Sommer in die Berge gegangen. „Weil ich nirgendwo sonst ein solches Glück, eine solche Zufriedenheit erlebe, wie auf der Alm“, sagt die Chiemgauerin. Morgens um 4.30 Uhr aus den Federn, kaltes Wasser zum Duschen, kein Handy, kein Fernseher, dafür viele Tiere und jede Menge Arbeit – viele schütteln sich beim Gedanken an ein solches Tagesprogramm. Almerin Martina würde für keinen Luxus der Welt ihre Almsommer eintauschen.

Aufgewachsen auf einem kleinen Bauernhof in einem bayrischen Dorf bei Rosenheim, kennt sie sich mit der Landwirtschaft aus. Schließlich muss sie sich für den Sennerinnen-Job bewerben wie für eine andere Stelle auch. Auf der Alm in über 1200 Metern Höhe ist sie für 40 Jungkühe, 12 Kälber und zwei Milchkühe verantwortlich. Das Jungvieh ist das Zukunftskapital des Bauern. Martina muss dafür sorgen, dass es unverletzt durch den Sommer kommt und im Herbst gesund wieder ins Tal zurückkehrt. „Da wird viel Vertrauen in mich gesetzt“, sagt sie. An den Reaktionen spürt sie immer wieder voller Stolz, welches Ansehen und welche Wertschätzung ihre Tätigkeit genießt. Neben der Sorge für die Jungkühe, die auf einer Fläche von 40 Hektar verstreut weiden, gehören das Buttern und Käsen zu ihren Aufgaben. Wanderer und Mountainbiker kann sie auf der Alm bewirten, wenn sie Zeit dafür hat, sie muss aber nicht.

Der Tag beginnt noch vor Sonnenaufgang mit dem Einheizen des Ofens für Heißwasser zum Waschen und Reinigen von Melkmaschine und Käsegeschirr. Die erste Arbeit am Tag ist das Buttern, denn dafür muss es kühl sein. Die 40 bis 50 Liter der beiden Milchkühe werden von Martina täglich zu Almbutter, Buttermilch und Käse verarbeitet. Zwei Mal in der Woche kommt der Bauer ihre Erzeugnisse abholen, einen Teil genießen die Wanderer zur Brotzeit, einen Teil isst sie selbst.
Möglichst autark auf dem Berg leben, will die Almbäuerin. Ganz wie bei Heidi gibt es Milch, Topfen (Quark), Käse und Butter im Überfluss. Dazu kommen leckeres, selbstgebackenes Holzofenbrot und regelmäßig Topfenstrudel für die Besucher. Zum Müsli gibt es Almkräuter und Blüten, zur Brotzeit Speck. Äpfel und manchmal Schokolade bringen Freunde und Ehemann mit. Franz Fischer bleibt den Sommer über im Tal bei seinem Baubetrieb, abends besucht er seine Frau mehrmals in der Woche auf der Alm. Zu Fuß dauert der Aufstieg zwei Stunden, mit Almausweis darf man bis zur Hütte fahren.

Einsam fühlt sich Martina Fischer nicht oben in den Bergen. „Ich genieße die Stille“, sagt sie, und Wandergäste, Freunde, Verwandte, der Bauer, der regelmäßig kommt, um Futter zu bringen und Käse und Butter abzuholen, lassen nicht wirklich Einsamkeit aufkommen. Am schönsten findet Martina die Regentage, dann kommen keine Gäste zur Brotzeit, dann ist Zeit zum Regenerieren und langsamer tun. „Ich habe den Eindruck, dass die Alm meine Sinne schärft“, findet sie. Das Riechen, das Hören und das Fühlen sind intensiver oben auf dem Berg. Auch uralte Instinkte, „die in uns sind, werden aktiviert, ich spür‘ bei dichtem Nebel, wo ich meine Tiere suchen muss“, sagt die Sennerin. Dazu wandert sie jeden Tag zwei bis drei Stunden über die Bergwiesen, kontrolliert die Zäune des weitläufigen Weidegebietes, prüft die Klauen der Tiere, schaut nach den Brunnen, klaubt Steine von den Weiden und sammelt Kräuter.

Wenn sie abends vor der Hütte hinunter ins Dunkel schaut, über die hügeligen Vorberge in die weite Ebene, wo sich unter leichtem Dunst ein riesiger nachtblauer Teppich mit tausenden von funkelnden Lichtlein ausbreitet, dann, sagt sie, „bin ich glücklich, wenn ich in solchen Momenten überhaupt etwas denke, meistens fühle ich es nur.“

Die Alm, ein Ort für die Seele, Martina Fischer, Kailash-Verlag 2016. ISBN: 978-3-424-63118-0
Wie es sich lebt zwischen harter Arbeit und grenzenloser Glückseligkeit, beschreibt die Autorin in diesem Buch über ihre Almsommer in den bayrischen Bergen. Dazu gibt sie viele traditionelle Rezepte weiter, die das einfache Leben auf der Alm zu uns nach Hause bringen.

Auf der Alm und im Tal, Martina Fischer
Glücklich leben als Selbstversorger
Verlag Kailash / Random House
ISBN: 978-3-424-63118-0

Rezept für Kräutersalz aus dem Almbuch
Blüten von Ringelblume, Löwenzahn, Gänseblümchen, Veilchen, Rotklee, Rosmarin, Bärlauch, Kraut von Petersilie, Liebstöckel, Zitronenmelisse; 1 Knoblauchzehe, etwas abgeriebene Zitronenschale, Steinsalz.
Kräuter und Blüten mit der geschälten Knoblauchzehe, Zitronenschale und Salz im Mixer feinmahlen. Die feuchte Salzmasse auf einem Backblech ausbreiten und 1 bis 2 Tage auf der Heizung trocknen. Dann noch mal in den Mixer geben. Das fertige Salz in schönen Gläsern luftdicht aufbewahren oder verschenken.

Selbst auf die Alm?
In Oberbayern gibt es rund 350 bewirtschaftete Almen, wer zum Wandern hinauf will, findet hier Anregungen:
Meine Lieblingsalm, Bayerische Hausberge, 30 Wanderungen zu den schönsten Hütten und Almen. Mit Wegbeschreibung, Karte und vielen Infos rund um Hüttengeschichte und Almtradition, J. Berg Verlag; April 2016. Im gleichen Verlag erschienen: Hüttenwanderungen im Chiemgau, Allgäu und Südtirol.